"Der Lokführer hat eigentlich Dank verdient"

Der Brandbrief des Lokführers von DB Cargo beschäftigt inzwischen auch die Politik. Der Brief war nicht für die Katz, sondern muss Folgen haben - sagt Cem Özdemir, Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag. Er hat Kontakt mit dem EVG-Kollegen aufgenommen - und sich anschließend im Interview mit EVG-Kommunikation geäußert.

Herr Özdemir, welchen Eindruck haben Sie - von dem Kollegen selbst als auch von dem Telefonat mit ihm?

Er ist für mich ein klassischer Mitarbeiter der Bahn, der sich mit seiner ganzen Energie und Überzeugung seit vielen Jahren bei der Bahn einbringt, einen tollen Job macht, aber der eben auch sieht, wie die Bundesregierung die Schiene in den letzten Jahren systematisch gegen die Wand gefahren hat. Und darüber hat sich viel Frust angesammelt. Ich habe ihm gesagt, dass ich fast alles teile, was er geschrieben hat und dass das nicht für die Katz war. Er hat ja viele Themen angesprochen, für die ich mich als Ausschussvorsitzender, als Abgeordneter und als Grüner einsetze.

Gab es in dem Brief etwas Bestimmtes, das Sie besonders animiert hat, zum Telefon zu greifen?

Der Brief ist ja symptomatisch und der Lokführer steht stellvertretend für viele bei der Bahn. Als regelmäßiger Bahnfahrer bekomme ich mit, wie die Beschäftigten zum Teil von Mitreisenden angemacht werden für Dinge, für die sie selbst  nichts können - Zugausfälle, Verspätungen, Bahnsteigwechsel, umgekehrte Wagenreihung. Das wird oft bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abgeladen. Aber das darf nicht dazu führen, dass die Leute sich innerlich von ihrem Job verabschieden, weil sie das Gefühl haben, ihnen hört niemand zu. Mein Eindruck ist, dass vieles, was sich an der Basis an Zorn ansammelt, an Wut, an Enttäuschung, oben gar nicht ankommt - an der Bahnspitze, aber vor allem auch in der Politik. Und es war schön zu hören, dass dieser Lokführer offenbar jemand ist, der die Hoffnung nicht aufgegeben hat, sondern der nach wie vor daran glaubt, dass sich was ändern kann. Ich habe ihm auch Mut gemacht, denn ich glaube, dass sich da derzeit wirklich etwas tut in der Gesellschaft. Die Bedeutung der Schiene kann man gar nicht hoch genug ansetzen, angesichts der Diskussion um gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land und vor allem angesichts unseres Kampfes gegen die Klimakrise. Die einzige Chance, dass der Verkehr beim Klimaschutz einen nennenswerten Beitrag leistet, besteht in einer ganz anderen Prioritätensetzung als heute. Die schlechte Nachricht: Wenn man sich die Zahlen der Bundesregierung anschaut, die vorgeschlagenen Eckwerte für den Bundeshaushalt 2020, dann sehe ich nicht, dass die Große Koalition den Ankündigungen im Bereich Schiene aus dem Koalitionsvertrag auch Taten folgen lässt.

Sie sagen, der Brief ist nicht für die Katz - was kann man, die Politik, was können Sie damit tun?

Es gibt kein Erkenntnisproblem bei der Bahn, wohl aber ein Umsetzungsproblem. Die Fakten sind bekannt. Seit 1994, also seit dem Jahr der Bahnreform,  sind rund 5.400 Gleiskilometer, 16 Prozent des Gleisnetzes, zurückgebaut worden. Wir haben z.T. noch Stellwerke aus Kaisers Zeiten. Wenn man das ändern will, muss Geld ins System Schiene investiert werden, deutlich mehr Geld. Damit das, was an schönen Dingen versprochen worden ist, auch realisiert werden kann: der Deutschland-Takt, die Verdoppelung der Fahrgastzahlen, mehr Güter auf die Schiene. Allein für die Digitalisierung müsste man, wenn man es wirklich ernst meint, pro Jahr mindestens 1,5 Mrd. einstellen. Die findet man aber nicht im Bundeshaushalt. Mit absurden Konsequenzen: Wir bauen in Stuttgart einen nagelneuen - und wie Sie wissen sehr umstrittenen und auch in Sachen Zeit und Kosten völlig aus dem Ruder gelaufenen - Bahnhof, und dieser Bahnhof droht nun mit veralteter Steuerungstechnik ausgestattet zu werden. Die Schildbürger hätten ihre wahre Freude.

Der Brief liest sich wie ein Kommentar zur aktuellen Kampagne der EVG "Mehr Bahn für die Menschen". Täuscht der Eindruck oder baut sich gerade so viel verkehrspolitischer Handlungsdruck auf, dass da wirklich was passieren muss?

Wie gesagt, die Erkenntnisse sind da, sie stehen so klar wie noch nie in der Koalitionsvereinbarung. Aber was nützt mir die tollste Koalitionsvereinbarung, wenn sie nicht mit Geld hinterlegt ist? Die Klimaschutzziele sind ohne und gegen die Schiene nicht erreichbar. Wir diskutieren zurecht über Elektromobilität auf der Straße, aber die gibt es längst, nämlich auf der Schiene. Und wenn man sieht, dass bei uns 60 % des Netzes elektrifiziert sind und in der Schweiz 100 %, dann fasst man sich an den Kopf, dass die Bundesregierung da nicht mehr investiert. Das reicht mitnichten aus, um die Ziele des Koalitionsvertrages zu erreichen. Die Autolobby ist gut und maximal hörbar organisiert. Es wird jetzt Zeit, dass sich auch diejenigen bemerkbar machen, die die Bahn nutzen und deutlich zeigen, dass es so nicht weitergeht. Wir brauchen endlich ein Schienennetz, das der Modernität und Leistungsstärke unsere Volkswirtschaft gerecht wird.

Wir unterstützen natürlich unseren Kollegen, falls er wegen seines Briefes Druck seitens des Arbeitgebers bekommt. Nach dem Gespräch mit Ihnen können wir davon ausgehen, dass auch der Vorsitzende des Verkehrsausschusses an seiner Seite steht? 

Absolut. Ich habe ihm auch gesagt, dass er mit meiner Unterstützung rechnen kann. Er hat ja keine Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert, sondern eigentlich etwas gemacht, wofür er Dank verdient hätte: Er hat eine Liebeserklärung ausgesprochen gegenüber einem tollen Job, bei dem eigentlich jeder funkelnde Augen bekommen könnte. Weil man etwas Gutes tut für das Land und die Menschen, weil man etwas Gutes tut für die Zukunft unserer Kinder, weil man etwas Gutes tut für unser Klima.  Ein künftiger Grüner Verkehrsminister oder Verkehrsministerin lädt Ihren Kollegen zum Kaffee ein, dankt ihm für die wichtigen Hinweise und schaut, wie wir die Umsetzung zügig und wirkungsvoll angehen können.