Portrait Cosima Ingenschay - erschienen im Tagesspiegel Background

Zunächst war es ein Schock. Als sich im Frühjahr auch in Deutschland das Coronavirus ausbreitete und während des ersten Lockdowns das ganze Land heruntergefahren wurde, stand Cosima Ingenschay vor großen Herausforderungen: Wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den kommenden Monaten organisiert und finanziert werden, gehörte zu den Fragen, mit denen sich die Bundesgeschäftsführerin der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG konfrontiert sah.

„Dieses Portrait erschien im Tagesspiegel Background, 30.11.2020“

Autorin: Jana Kugoth, Quelle: https://background.tagesspiegel.de/mobilitaet/cosima-ingenschay

An einen „normalen“ Alltag war nicht zu denken: Die Besuche der Gewerkschaftssekretäre in den Betrieben fielen aus, der Kontakt zu den Mitgliedern und Kollegen wurde durch die geltenden Kontaktbeschränkungen gekappt. Dazu kamen die finanziellen Sorgen: Kurzarbeit war sowohl in der eigenen Organisation als auch in den Unternehmen der Mitglieder angesagt.

Um den Beschäftigten „die notwendige Sicherheit und Stabilität für ihre Arbeitsplätze“ zu geben, schloss die EVG mit dem Bundesverkehrsministerium und der Deutschen Bahn unter Kritik der Konkurrenzgewerkschaft GdL das Bündnis für die Bahn. „Gerade in Krisenzeiten sind starke Gewerkschaften wichtig“, so Ingenschay. Auch in ihrem persönlichen Umfeld hätten sich Unterstützernetzwerke formiert. „Im Vorstand arbeiten wir als Team sehr gut zusammen.“ Zu merken, die Verantwortung nicht allein schultern zu müssen, habe sie entlastet.

Digitale Kaffeetrinken, Telefonkonferenzen und persönliche Netzwerke

In allen Bereichen der Gewerkschaft seien innerhalb kurzer Zeit Ideen entwickelt worden, wie sich das Arbeiten und Treffen der Aktiven in der EVG unter Pandemie-Bedingungen realisieren ließe. „Eine der ersten Initiativen im März kam aus einer Seniorengruppe“, erinnert sich die Bundesgeschäftsführerin. „Wegen des Kontaktverbots haben die Senioren einen regelmäßigen Telefon-Stammtisch eingerichtet, um weiter miteinander im Austausch zu bleiben.“ Andere Ortsgruppen organisierten digitale Kaffeetrinken vor dem PC, Betriebsräte tauschen sich in Videokonferenzen aus.

Ingenschay, die sich bei der EVG vor allem um das Thema Bildung kümmert, verlagerte ihre Arbeit ebenfalls ins Digitale. Statt wie gewöhnlich viel unterwegs zu sein, arbeitete die Mutter von vier Töchtern nun viel aus einem extra angemieteten „Büro“-Zimmer heraus, so auch während des Videotelefonats mit Tagesspiegel Background. „Für etwas mehr Ruhe im Homeoffice.“

Von dort aus organisierte sie in diesem Jahr gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen, dass bei der von ihr mitgegründeten „Betriebsräte-Akademie“, der „Kaderschmiede“ für Betriebsräte, erstmals ganze Module ausschließlich online angeboten wurden. Bisher war die digitale Lernplattform zu Themen wie dem „Betriebsratsbüro der Zukunft“ oder neu entstehenden Mobilitätsplattformen begleitend zu Präsenzveranstaltungen. Im Corona-Jahr fand die gesamte Fortbildung ausschließlich vor dem PC statt.

Erstmals digital: der Gewerkschaftstag

Andere Gruppen versucht die studierte Techniksoziologin nun vermehrt über die sozialen Netzwerke zu erreichen. Mit Image-Filmen und Social-Media-Posts wirbt die EVG bei Auszubildenden für den Eintritt in die Gewerkschaft. „Die Kontaktaufnahme zu den Auszubildenden auf Einführungstagen ist in diesem Jahr kaum möglich“, sagt Ingenschay zur Erklärung. Sie ist stolz darauf, dass die EVG in diesem Jahr trotz Corona genauso viele Eintritte verzeichnet wie im vergangenen, die Online-Eintritte waren dabei vier Mal so hoch wie 2019. Mit der neu startenden Werbekampagne #fairnachvorne soll auch der digitale Gewerkschaftsbeitritt noch einfacher werden. „QR-Code einscannen, Internetformular ausfüllen, fertig.“

Das aber wohl größte Projekt in diesem Jahr liegt gerade erst hinter der Bundesgeschäftsführerin: Als klar wurde, dass für die Wahl des neuen EVG-Vorstandsvorsitzenden Klaus-Dieter Hommel (Porträt hier) ein außerordentlicher Gewerkschaftstag nötig sein würde, der mit bis zu 600 Delegierten nicht als Präsenzveranstaltung stattfinden kann, stand Ingenschay vor der Aufgabe, innerhalb von sechs Wochen ein digitales Ersatzformat zu entwickeln.

„Eine reine Briefwahl kam für uns nicht infrage“, sagt sie, „wir wollten Raum für Fragen und Diskussion bieten“. Letztendlich entschied sich die EVG dazu, die Veranstaltung im November über öffentliche Kanäle wie Facebook und Youtube zu übertragen. Auch, weil das eine schnelle Umsetzung erlaubte. Nicht alle Zuschauer durften allerdings mitdiskutieren. Fragen waren den Delegierten vorbehalten.

„Nicht alles lief glatt, die Technik holperte, sodass wir ein paar Tage später eine weitere Fragerunde veranstaltet haben“, berichtet Ingenschay. „Das Versprechen, unseren Mitgliedern über technische Wege genauso viel Mitspracherecht zu ermöglichen wie bei persönlichen Treffen, wollen wir einhalten.“ Die EVG sei mit ihrem digital-analogen Gewerkschaftstag Vorreiter bei den Gewerkschaften. Am morgigen Dienstag sollen die Briefwahlstimmen ausgezählt sein. Erwartet wird, dass Klaus-Dieter Hommel, der das Amt bisher übergangsweise inne hatte, als Vorsitzender bestätigt wird.

Für mehr Vielfalt und Frauen

Grundsätzlich sei das Feedback auf die Digitalveranstaltungen positiv gewesen. Dennoch wisse sie, dass nicht alle Mitglieder über digitale Wege zu erreichen seien, sagt Ingenschay. „Wir wollen daran arbeiten, niemanden zu verlieren.“  So wolle die EVG künftig parallel zu einem Internetchat weiterhin eine Telefonschalte anbieten, über die Fragen gestellt werden können. Zuletzt wählten sich deutlich mehr EVGler per Telefon ein als auf digitalem Wege – was auch an der demographischen Struktur der Gewerkschaft liegen dürfte.

Das Thema Digitalisierung ist für Ingenschay nicht neu. Im Ruhrgebiet geboren, studierte sie nach dem Abitur Soziologie, Politik und Arbeitswissenschaften in Bonn, Madrid, Ljubljana und Berlin. Mit dem Diplom in der Tasche fing sie 2006 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin an. Dort beschäftigte sie sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Berufsverläufe von Männern und Frauen. Zur EVG kam die politisch bei der SPD engagierte Technikwissenschaftlerin 2013, zunächst als Gewerkschaftssekretärin. Nach vier Jahren übernahm sie die Geschäfte der Bildungsakademie und wurde 2019 Bundesgeschäftsführerin – und sitzt im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn.

Zuletzt legte sie sich mit dem staatseigenen Konzern wegen der Frauenförderung an. Vielfalt in Vorständen, Führungsebenen und der Belegschaft stärkt Unternehmen wirtschaftlich, ist die Wissenschaftlerin überzeugt und verweist auf entsprechende Studien. Eine ablehnende Haltung – wie sie die Bahn laut Medienberichten auch mit Verweis auf hohe Kosten für Gleichstellungsbeauftragte vertritt – kann sie nicht nachvollziehen.

Die Digitalisierung kann, richtig genutzt, zu mehr Teilhabe führen, ist Ingenschay überzeugt. „Corona war ein Turbo für alle Digitalisierungsvorhaben, hat aber auch wie unter einem Brennglas gezeigt, wo es noch hakt“, sagt die 41-Jährige. Wenn sie mal Kraft tanken möchte, fährt sie mit ihrer Familie gerne nach Brandenburg, wo ihr Vater ein Haus in Seenähe hat und ihre sportbegeisterten Töchter reiten können. Auch im Winter.

Vier Fragen an Cosima Ingenschay:

1. Welches Auto kaufen Sie sich als nächstes?

Ich bin VW-Bus-Fahrerin. Mit vier Kindern und einem Hund kann man nur noch Bus fahren. Wir haben einen klassischen Siebensitzer. Wenn der jetzige es nicht mehr tut, kaufe ich mir einfach ein neues Modell.

2. Wie halten Sie es mit dem Fliegen?

Mache ich eigentlich nicht, vor allem nicht im Inland. Nur für den Sommerurlaub steigen wir mal ins Flugzeug.

3. Wer gibt in der Mobilitätsbranche das Tempo vor?

Ich würde mir wünschen, dass die Eisenbahnverkehrsunternehmen das stärker tun würden. Denn die Bahn ist eine Form von E-Mobilität, die leider nicht so präsent in unseren Köpfen ist, obwohl es sie schon lange gibt und sie mehr denn je ökologisch gefordert ist.

4. Wo würden Sie selbst gern das Rad neu erfinden?

Beim Güterverkehr. Es ist ein unhaltbarer Zustand, wie viele Güter mit dem Lkw transportiert werden. Dabei gäbe es so viele Möglichkeiten, den Warentransport ökologisch auf die Schiene zu verlagern. Da müssen Politik und auch Verbraucherinnen und Verbraucher mehr einfordern. Es kann ja nicht sein, dass es bisher kein Tesla-Werk mit Gleisanschluss gibt - dabei sollen das die großen ökologischen Vorreiter sein.