"Ein Besuch, der bewegt" - junge deutsche Gewerkschafter:innen zu Besuch in der Türkei
Die Europäische Akademie der Arbeit bildet seit vielen Jahrzehnten junge Menschen für die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit aus. Zahlreiche gestandene Gewerkschaftssekretär:innen haben hier das wissenschaftliche Rüstzeug für ihre Arbeit bekommen. Aktuell befindet sich bereits der 89. Jahrgang in Ausbildung!
In diesem Rahmen haben die jungen Kolleg:innen im Juni die Türkei - genauer gesagt: die türkische Transportgewerkschaft besucht. Mit dabei: zwei junge EVG-Kolleg:innen aus NRW, Jasmin Bönck und Christoph Becker. Anbei ihr Erfahrungsbericht.
Im Rahmen unseres Besuchs bei der türkischen Transportgewerkschaft Tümtis (Türkiye Motorlu Taşıt İşçileri Sendikası) erhielten wir eindrucksvolle Einblicke in die Strukturen, Herausforderungen und Erfolge einer Organisation, die sich seit Jahrzehnten mit Nachdruck für die Rechte von Beschäftigten im Transport- und Logistiksektor einsetzt. Tümtis ist Mitglied im größten türkischen Gewerkschaftsbund Türk-İş.
Die Geschichte von Tümtis ist geprägt von intensiven Auseinandersetzungen - insbesondere seit den 1990er-Jahren, als internationale Konzerne zunehmend in den türkischen Markt eintraten. Diese Entwicklung stellte neue Anforderungen an die Gewerkschaftsarbeit und rief Tümtis auf den Plan, um sich mit aller Entschlossenheit für faire Arbeitsbedingungen einzusetzen.
Ein Meilenstein in dieser Geschichte war der 160 Tage andauernde Streik bei UPS. Er endete mit einem bemerkenswerten Erfolg: verbesserte Arbeitsbedingungen, gesicherte Rechte und Löhne deutlich über dem gesetzlichen Mindestmaß. Noch eindrucksvoller zeigt sich der langanhaltende Arbeitskampf bei DHL: 470 Tage wurde hier gestreikt. Dass auch dieser Konflikt schließlich in einem Tarifvertrag mündete, ist nicht zuletzt der internationalen Unterstützung zu verdanken.
Organisieren unter schwierigen Bedingungen
Deutlich wurde während unseres Besuchs, wie hoch die Hürden für Gewerkschaftsarbeit in der Türkei liegen. Um überhaupt tarifverhandlungsfähig zu sein, müssen mindestens 40 Prozent der Belegschaft organisiert sein - eine Schwelle, deren Erreichung nicht nur schwierig, sondern auch stark gefährdet ist durch gezielte Interventionen von Arbeitgeberseite. Uns wurde geschildert, wie Unternehmen versuchen, gewerkschaftliches Engagement zu unterbinden. So wurden in einem Fall Mobiltelefone eingesammelt, um Mitglieder zu identifizieren - ein gravierender Eingriff in die Privatsphäre. Und dennoch - oder gerade deshalb - bleibt Tümtis standhaft.
Kommunikation und Engagement für neue Gruppen
Tümtis versteht sich nicht nur als Interessenvertretung klassischer Angestellter im Transportwesen, sondern nimmt auch zunehmend prekarisierte Arbeitsverhältnisse in den Blick. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Motorradkuriere. Diese arbeiten häufig in vermeintlicher Selbstständigkeit - ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ohne feste Verträge, oftmals über Subunternehmen vermittelt. Für eine klassische Gewerkschaftsmitgliedschaft fehlen ihnen meist die formalen Voraussetzungen wie ein eindeutiger Arbeitgeber oder ein festgelegter Branchencode. Dennoch sieht Tümtis es als ihre Aufgabe, auch diese Gruppe zu unterstützen und sich für besseren gesetzlichen Schutz stark zu machen. Deutlich wurde dabei: Ohne Organisation wird es kaum gelingen, strukturelle Verbesserungen für diese wachsende Berufsgruppe zu erreichen.
Erweiterung des Tätigkeitsfeldes
Seit 2008 hat Tümtis ihren Organisationsbereich über die klassische Cargobranche hinaus erweitert. Der bislang wenig organisierte Personenverkehr gilt - insbesondere mit Blick auf bevorstehende Privatisierungen - als zentrales zukünftiges Betätigungsfeld. Hier möchte Tümtis frühzeitig Strukturen aufbauen, um gewerkschaftliche Standards zu sichern.
Internationale Solidarität - eine tragende Säule
Ein zentrales Element der gewerkschaftlichen Arbeit von Tümtis ist die internationale Vernetzung. Die Zusammenarbeit mit der International Transport Workers' Federation (ITF) sowie mit deutschen Gewerkschaften wie Ver.di und der EVG wird als essenziell beschrieben - gleichzeitig jedoch auch als ausbaufähig.
Ein Besuch, der bewegt
Unser Besuch bei Tümtis endete mit einem herzlichen Austausch und der symbolischen Übergabe eines Geschenks. Zurück bleiben nicht nur tiefe Eindrücke vom Engagement dieser Gewerkschaft, sondern auch der feste Wunsch nach weiterem gemeinsamen Lernen und der Stärkung internationaler Solidarität.