Die erste amerikanische Präsidentschaftskandidatin

„Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich mit der Bewerbung auf diese Stelle mehr Hohn als Enthusiasmus auslöse. Aber dies ist eine Epoche der plötzlichen Veränderungen und Überraschungen. Was heute absurd erscheint, wird morgen ein seriöser Aspekt sein.“

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Viele Menschen meinen, Hilary Clinton sei 2016 die erste Frau, die sich um das amerikanische Präsidentenamt beworben hat. Doch schon vor 150 Jahren am 10. Mai 1872 kandidierte Victoria Woodhull für das höchste Amt in den USA. 

Als sie ihre Kandidatur durchsetzte, war ihr die eigene Chancenlosigkeit völlig klar. Für sie war es ein symbolischer Akt. Sie wollte ein Signal für die Gleichstellung von Frauen setzen. Im Falle ihrer Präsidentschaft wäre sie am Tag ihrer Vereidigung 34 Jahre alt gewesen, die Verfassung aber schrieb ein Mindestalter von 35 Jahren vor

Wer war diese Victoria Woodhull?

Geboren 1838 in Ohio wuchs Victoria California Claflin mit neun Geschwistern in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Die Eltern verdienten ihr Geld mit Wahrsagen, Quacksalberei und anderen zwielichtigen Geschäften. Eng verbunden blieb sie zeitlebens mit ihrer jüngeren Schwester Tennessee, mit der sie zusammen mit dem Vater auf Reisen gehen und als Kinder-Wahrsagerin auftreten musste. Diese Zeit prägte sie, ihr Leben lang glaubte sie an Spiritualismus.

Sie führte ein wechselvolles, selbstbestimmtes Leben. Mit 15 Jahren ging sie von zuhause weg, heiratete einen Alkoholiker, bekam zwei Kinder und ließ sich wieder scheiden. 

Als Haupternährerin der Familie verdiente sie ihr Geld mit Schauspielerei oder als magnetische Heilerin und Wahrsagerin. Das änderte sich auch nicht, als sie James Blood kennenlernte und heiratete, der sie u. a. mit politischen, antirassistischen und sozialen Reformbewegungen, sozialistischem und anarchistischem Gedankengut und Ansätzen zur Überwindung der Benachteiligung von Frauen bekannt machte.

1868 zog Victoria Woodhull mit ihrer Schwester Tennessee Claflin und ihrem Mann nach New York City. Die Schwestern verdienten ihren Lebensunterhalt mit spiritistischen Dienstleistungen, aber auch durch den Verkauf von Essigschwämmen zur Verhütung.

Im selben Jahr lernten die Schwestern den aus der Unterschicht zum Multimillionär aufgestiegenen Eisenbahnunternehmer Cornelius Vanderbilt kennen, der ebenfalls zum Spiritismus neigte. Vanderbilt machte Claflin zu seiner Heilerin und Geliebten und Woodhull zu seiner hellsehenden Finanzberaterin. Er beteiligte Woodhull seit November 1868 zu einem bestimmten Prozentsatz an seinen Gewinnen an der Börse und entlohnte Tennessee Claflin großzügig. 

Im Januar 1870 eröffneten die Schwestern das erste von Frauen geführte Maklerbüro an der Wall Street unter dem Namen Woodhull, Claflin & Co. Die beiden Unternehmerinnen waren damit sehr erfolgreich und erwirtschafteten beträchtliche Gewinne. Neben Männern waren vor allem betuchte Frauen die umworbene Zielgruppe. Woodhull wollte mit der Gründung einer Brokerfirma unter weiblicher Führung die absolute Gleichheit der Geschlechter demonstrieren und unterstrich dies, indem sie mit kurzen Haaren und in Männerkleidung zur Eröffnung erschien.

Woodhull hatte inzwischen viel Kontakt zu Frauenrechtlerinnen. Mit ihrer Schwester betrieb sie in ihren Büroräumen eine Art wöchentlich tagenden, politischen Salon, in dem u. a. zahlreiche Journalisten, wenige Geschäftsleute und Politiker sowie Anhänger:innen verschiedener Reformbewegungen verkehrten, darunter Frauenrechtlerinnen verkehrten.

Während die amerikanische Frauenbewegung vornehmlich das Frauenwahlrecht erstreiten wollte, argumentierte Victoria Woodhull, es gehe darum, die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen. In der amerikanischen Verfassung fänden sich lediglich Aussagen über Bürger-, nicht aber über Männer- bzw. Frauenrechte. Demnach sei das Frauenwahlrecht bereits vorgesehen. Mit dieser Begründung nahm sie ihre politischen Rechte in Anspruch und schrieb zwischen Juni und November 1870 im New York Herald wöchentlich über ihre sozialen und politischen Auffassungen.

Um ihre Kandidatur zu unterstützen gründete sie mit ihrer Schwester die Wochenzeitung Woodhull and Claflin’s Weekly, in der ein breites Spektrum von Themen wie die Gleichberechtigung von Frauen, die sozialistische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung, Kinderarbeit, Reformkleidung für Frauen oder auch Börsen -und Finanztipps veröffentlicht wurde. Im Dezember 1871 erschien in ihrer Zeitung als erste die englischsprachige Fassung des Kommunistischen Manifestes in den Vereinigten Staaten und in ihrer Zeitung wurde über die Pariser Kommune berichtet. 

Das Blatt wurde zeitweise zum zentralen Informationsmittel des amerikanischen Zweigs der Ersten Internationale oder auch Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), in der sich Victoria Woodhull ab März 1871 engagierte und eine eigene Sektion gründete. In dieser Zeit stand Woodhull auch mit Karl Marx im Schriftwechsel. 

Niemals ließ Woodhull sich von einer Bewegung vereinnahmen. Sie forderte jederzeit alle Seiten heraus. Letzten Endes ohne Erfolg. Sowohl die Frauenrechtsbewegung als auch die Arbeiterbewegung distanzierten sich schließlich von Victoria Woodhull. Ihre Sektion wurde beim Kongress in Den Haag im September 1872 aus der Internationale ausgeschlossen, weil sie sich „nur“ um Frauenrechte, nicht um die Rechte der Arbeiter:innenbewegung einsetzte. Auch die Frauenrechtlerinnen kamen immer weniger mit ihr zurecht.

Nach der gescheiterten Präsidentschaftskandidatur, erheblichen finanziellen Schwierigkeiten und politischen Misserfolgen, zog Woodhull 1876 nach England. Von dort aus kandidierte sie noch zweimal als amerikanische Präsidentin. Sie setzte ihre publizistische Tätigkeit fort, gab ab 1892 mit ihrer Tochter die Zeitschrift „Humanitarian“ heraus und kämpfte weiterhin für Frauenrechte. Woodhull starb 1927.

Ein Artikel des AK Geschichte/Frauengeschichte der EVG-Bundesfrauenleitung.