Lebenslinie(n): „Hinschauen, nicht wegschauen!“

Die Berliner Luftbrücke wäre ohne die Eisenbahn nicht möglich gewesen – sagt Siegfried Kugies. Er hat daran mitgewirkt. Inzwischen ist er einer der letzten Zeitzeugen.

Siegfried Kugies

Im Arbeitszimmer steht das Körbchen für den nächsten Tag schon bereit. Es enthält die Utensilien, die Siegfried Kugies bei der bevorstehenden Lesung aus seiner Autobiografie zeigen wird. Eine Karbidlampe ist dabei und ein Kohlensack. In dem Sack wurden Kohlen aus Güterzügen in Flugzeuge verladen, die Karbidlampe gab Licht beim Entladen und beim Rangieren der Züge. 70 Jahre ist das her. Und noch heute liest Siegfried Kugies, bald 92 Jahre alt,  immer wieder aus seinen Erinnerungen, die er vor sieben Jahren in Buchform veröffentlicht hat.
 
In den ersten 18 Jahren verlief das Leben „des Siggi Kugies aus Ostpreußen“, wie er sich selbst gerne nennt, so wie das Leben vieler junger Männer des Jahrgangs 1926. Schule, Hitlerjugend, Einberufung. Siegfried Kugies kam an die Westfront, erst an die Flak, dann zur Infanterie. Im Winter 1944/45 hatte er das erste Erlebnis, das seinem Leben eine entscheidende Wende gab: die Gefangennahme durch die US-Army. Gemeinsam mit seinen Mitgefangenen wurde Siegfried Kugies auf einem Schiff in die USA gebracht. „Wir waren gerade vier Tage unterwegs, als deutsche U- Boote den Geleitzug angriffen. Glücklicherweise  traf kein Torpedo unser Schiff! Am 20. April, nach vier Wochen auf See, trafen wir im Hafen von  New York ein. Was für ein Anblick, das Empire State Building und die vielen Wolkenkratzer… dies werde ich nie vergessen.“

Kriegsgefangenschaft in den USA hieß: Unterbringung in einem Camp, Arbeit (in diesem Fall: in der Wäscherei), abends Unterricht: Englische Sprache, englische und amerikanische Geschichte, Demokratieunterricht. „Hier gingen mir die Augen auf,  dass man als 17jähriger  als Kanonenfutter missbraucht wurde. Wir wurden mit Begriffen wie „Demokratie, Menschenwürde, Freiheit“ vertraut gemacht. Auch sagte  der Referent: Eine Demokratie steht und fällt mit der ehrenamtlichen  Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger.“ Seine Lehre bis heute: „Nicht wegschauen, sondern Hinschauen!“

1946 wurde Siegfried Kugies nach Wales verlegt und arbeitete dort auf einer Farm. „Wäre der Brief damals nicht gekommen, wäre ich Bauer in Wales geworden“, sagt er heute. Der Brief kam vom Roten Kreuz und teilte ihm mit, dass es seine Familie nach Trebur in Hessen in der Nähe von Rüsselsheim verschlagen hatte. So kam auch Siegfried Kugies nach Trebur.

Mit dem Geld, das er in Wales verdient hatte, kaufte sich der 22-jährige einen Anzug und stellte sich bei Opel in Rüsselsheim vor. „Wegen des Anzugs haben sie mich dort angeguckt wie einen Hochstapler.“ Eine Stelle hatte man  für den jungen Mann nicht frei. Bei der Eisenbahn nahm man ihn sofort. Gleise und Bahnhöfe lagen in Trümmern, es wurde jede Hand gebraucht. Siegfried Kugies arbeitete im Gleisbau, als Rangierer und als Schrankenwärter.

Anfang 1949 wurde Siegfried Kugies zur Rhein-Main-Airbase nach Frankfurt delegiert. Es war das nächste einschneidende Erlebnis:  Denn dort war die wohl größte Logistik-Aktionen der Geschichte im Gange, die Berliner Luftbrücke. 

Im Juni 1948 hatten die Westalliierten in West-Berlin die D-Mark als Zahlungsmittel eingeführt. Die Sowjetunion reagierte mit der Sperrung aller Zufahrtswege in die Stadt. Die USA, Frankreich und Großbritannien begannen, West-Berlin und seine fast zwei Millionen Einwohner über die Luft zu versorgen. Elf Monate lang, von Juni 1948 bis Mai 1949, wurden Lebensmittel, Medikamente und Kraftstoffe mit Flugzeugen nach Berlin gebracht. Von der Rhein-Main-Airbase wurden überwiegend Kohlen transportiert. Aber die Kohle musste zu den Flugzeugen gebracht werden und dafür brauchte man die Eisenbahn. Die Kohle kam in Zügen aus dem Ruhrgebiet oder aus dem Frankfurter Osthafen. „Das Gleis 7 war für die Kohlenzüge reserviert“, sagt Siegfried Kugies und zeigt  einen alten Gleisplan. „50 Waggons Kohle waren innerhalb von zwei Stunden entladen. Der leere Zug raus, der nächste rein. So ging das im Drei-Schicht-Betrieb, rund um die Uhr, auch am Sonntag und an den Feiertagen.“ Zwei Kolonnen Eisenbahner arbeiteten dafür, zwei rangierten die Züge, eine dritte sorgte für Kraftstoff.

Mit seinen Englisch-Kenntnissen wurde Siegfried Kugies ein wichtiger Mann im Austausch zwischen deutschen Eisenbahnern und amerikanischen Militärs. Eine Funktion, die ihm nicht nur während der Luftbrücke nützte, sondern auch in seinem weiteren Leben und Berufsleben. Bei der Bundesbahndirektion Frankfurt leitete er später das Aufgabengebiet „Verkaufsförderung und Touristik“. Bis heute ist die Verbundenheit der ehemaligen Kriegsgegner Deutschland und USA sein großes Thema. Noch immer hat er Kontakte zu den in Hessen lebenden Amerikanern, noch immer liest er aus seinem Buch „Der ostpreußische Eisenbahner und die Amerikaner“, organisiert Konzerte und Veranstaltungen – auch für EVG-Seniorinnen und Senioren. Seit 1948 ist Siegfried Kugies Mitglied unserer Gewerkschaft.

Für Juni, zum 70. Jubiläum der Luftbrücke, hat er eine Veranstaltung am Luftbrückendenkmal in Frankfurt vorbereitet. „Die Luftbrücke wäre ohne die Eisenbahner nicht möglich gewesen“, sagt er. „Das darf nicht vergessen werden!“