Jahr der Schiene: „Wir wollen gehört werden“

Die EU hat 2021 zum „Jahr der Schiene“ erklärt. Die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) wird das aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitgestalten. Wie, sagt uns der Präsident der ETF-Sektion Eisenbahn, Giorgio Tuti. Er ist Vorsitzender unserer Schweizer Partnergewerkschaft SEV.

Giorgio Tuti

Giorgio, die EU hat 2021 zum „Jahr der Schiene“ ausgerufen. Was muss aus Sicht der ETF in diesem Jahr geschehen, damit das nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt?

Die Eisenbahn muss das Rückgrat eines nachhaltigen Verkehrssystems in Europa werden. Das erfordert Strategien zur Förderung des Schienengüter- und Schienenpersonenverkehrs. Dazu gehört zwingend die Sicht der Mitarbeitenden, deren Probleme endlich erkannt und behoben werden sollen. Wir sollten aufhören zu glauben, dass die Arbeit im Eisenbahnsektor einfach nur gut ist. Dies ist definitiv nicht der Fall. Es gibt beispielsweise so gut wie keine Überwachung und Durchsetzung von Arbeitszeiten im Bahnsektor; aber auch Ausbildungsdumping oder die Umgehung von Tarifverträgen gehören leider zum Repertoire einiger Bahnunternehmen.

Der Sektor leidet aufgrund der demografischen Situation unter einem Mangel an qualifiziertem Personal und muss vermehrt junge Arbeitnehmende und Frauen anziehen. Ohne ausreichend Personal stehen die Widerstandsfähigkeit des Bahnsektors und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit auf dem Spiel. Damit es im Jahr der Eisenbahn nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt, braucht es den erfolgreichen Abschluss der Women in Rail -Verhandlungen, damit der Sektor für Frauen attraktiver wird.

Die EU-Kommission hat weitreichende Ziele, was Klimaschutz und Nachhaltigkeit betrifft, Stichwort Green Deal. Gemessen daran wäre ein einziges, isoliertes Jahr der Schiene ein bisschen wenig, oder?

Absolut einverstanden. Die ETF versteht das Jahr der Eisenbahn denn auch als Startschuss für positive langfristige Entwicklungen im Eisenbahnbereich. Die Eisenbahn, respektive ganz allgemein der öffentliche Verkehr, als kollektive Transportform, wird ein Teil der Lösung der Klimaprobleme sein. Die klima- und umweltfreundliche Eisenbahn muss im Güter- und Personenverkehr deutlich ausgebaut werden. Die Wettbewerbsbedingungen der Verkehrsträger müssen zugunsten der Schiene gestärkt werden. Die Mobilitätsbranche wird deshalb nicht nur auf Grund der demografischen Entwicklung, sondern auch wegen des Wachstums auf mehr Personal angewiesen sein. Das wird sie nur finden, wenn sie sichere Arbeitsplätze mit fairen Löhnen und fortschrittlichen Anstellungsbedingungen anbieten.

„Wir sollten aufhören zu glauben, dass die Arbeit im Eisenbahnsektor einfach nur gut ist. Dies ist definitiv nicht der Fall.“

Giorgio Tuti, Vorsitzender ETF Eisenbahnsektion, Präsident SEV

Wie wird die ETF selbst dieses Jahr mitgestalten / begleiten?

Die ETF wird mit eigenen Events das Jahr thematisch mitgestalten. Wir sind die Stimme des Personals, wir wollen gehört werden! Auch wollen wir Multiplikator für die vielen nationalen Aktionen sein und ihnen in Wort und Bild eine europäische Plattform bieten. 

Ihr plant eine Reihe von Veranstaltungen, natürlich unter Corona-Schutz-Bedingungen – was ist da für dich das Highlight bzw. worauf freust du dich am meisten?

Mir persönlich ist es am wichtigsten, wenn wir es schaffen auf Problemstellungen zu sensibilisieren und Lösungen vorzuschlagen, die längerfristig möglichst vielen Mitarbeitenden zugutekommen. Mein persönliches Highlight wäre ein essentieller Schritt nach vorn für die Frauen, sprich der erfolgreiche Abschluss der Women in Rail-Verhandlungen und das Anpeilen von griffigen Mitteln zur Bekämpfung des Dumpings, das leider auch im Eisenbahnsektor existiert.

Abschließend noch eine Frage zu eurem aktuellen Tarifabschluss bei der SBB. Auf Arbeitnehmerseite haben 4 Gewerkschaften am Tisch gesessen. Wie habt ihr es bewerkstelligt, trotz der Konkurrenzsituation miteinander zu kooperieren? 

Wir versuchen jeweils mit einer gemeinsamen Verhandlungsstrategie in die Verhandlungen zu gehen. Die Ausgangslage ist so, dass der SEV 80 % der Gewerkschaftsmitglieder bei den SBB vertritt und die anderen drei Gewerkschaften gemeinsam die restlichen 20 %. Daraus ergibt sich automatisch eine Gewichtung bei unterschiedlichen Haltungen. Bisher ist es uns immer geglückt, mit einer Stimme zu sprechen, wovon auch die Mitglieder profitieren. Man muss natürlich auch sehen, dass es uns mit der Verlängerung der Vertragsdauer gelungen ist, Stabilität zu garantieren und durch den absoluten Kündigungsschutz Arbeitsplätze zu schützen. Diese Garantie und Sicherheit - vor allem in der aktuellen Krisenzeit - wurde von den Mitarbeitenden lobend aufgenommen und auch entsprechend gedankt. 

Das Interview mit Giorgio Tuti wurde am 9. Februar 2021 geführt.