Personalmangel: „Wir verlieren mehr Leute, als wir einstellen können."

Er ist mittlerweile eine der größten, vielleicht die größte Herausforderung auch in der Verkehrsbranche: der Fachkräftemangel und ganz allgemein der Personalmangel. Wie die Unternehmen, aber auch die betrieblichen Interessenvertreter:innen damit umgehen - das war das zentrale Thema am Vormittag des zweiten Konferenztages des Mitbestimmungskonferenz von EVG und EVA.

Einleitend hatten Kolleginnen und Kollegen aus dem Publikum Einblicke in die betrieblichen Realitäten gegeben. „Wir verlieren mehr Leute, als wir einstellen können“, so ein Betriebsrat von DB Fahrwegdienste. „Es tut sich immer ein Loch auf, da ist Chaos. Man versucht die Lücken zu stopfen. Das funktioniert nicht. Man sieht die Kolleg:innen, wie sie ganz langsam kaputt gehen.“ Denn klar ist, wo Leute fehlen, müssen andere Mitarbeitende einspringen. „Wir haben Leute, die krank zur Arbeit kommen, weil sie sagen, ich lasse meine Kollegen nicht im Stich. Das kann es nicht sein“, so ein Betriebsrat von DB KT.

„Im Verkehrsbereich dürfen Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die eigene Nachwuchskräfte ausbilden.“

Frank Hauenstein, EVG-Vorstand

Eine Kollegin aus dem Busbereich kritisierte, dass bereits Auszubildende verheizt würden, weil sie im Regelbetrieb eingesetzt werden. „Und nach der Ausbildung verlassen sie uns, weil sie nicht immer nur hin und her und im Kreis fahren wollen und weil sie anderswo auch mehr verdienen.“ Dass die Bezahlung eine wichtige Rolle spielt, zog sich ebenfalls wie ein roter Faden durch die Statements: „Die Eingruppierung ist nicht attraktiv genug, um die besten Leute zu bekommen“, so ein Kollege aus der regionalen Instandhaltung. „Irgendwann muss der Konzern wach werden, und den großen Konzernen in anderen Branchen auch mal den Kampf ansagen.“

Mit einer Zahl ordnete EVG-Vorstand Frank Hauenstein die Diskussion ein. „Seit dem Jahr 2000 sind in der deutschen Wirtschaft 500.000 Ausbildungsplätze im dualen System einfach verschwunden.“ Die Arbeitgeber hätten sich damit aus ihrer Verantwortung geschlichen. „Seit den frühen 90er Jahren haben wir uns für die Ausbildungsumlage eingesetzt. Sie ist nicht gekommen, obwohl sie in vielen Koalitionsverträgen stand. Man hat sich immer auf die Freiwilligkeit der Arbeitgeber verlassen. Und jetzt wird nach dem Staat gerufen, der Geld aus Steuermitteln aufwenden müsste, um die Versäumnisse von Jahrzehnten auszugleichen.“ Seine klare Forderung: „Im Verkehrsbereich dürfen Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die eigene Nachwuchskräfte ausbilden.“ 

„Bitte und Danke reichen nicht aus, wenn die Kolleg:innen ihre Körper und ihre Familien kaputtmachen.“

Florian Witte, Betriebsrat bei DB Cargo AG

Auch das Berufsbild des Ausbilders müsse wieder aufgewertet werden. „Unternehmer heißen Unternehmer, weil sie etwas unternehmen. Die Arbeitgeber müssen Verantwortung übernehmen. Wir brauchen fundierte Ausbildung, um die Qualität und die Attraktivität der Arbeitsplätze in der Branche zu heben.“

Die Aussagen und Argumentationen der Arbeitgebervertreter auf dem Podium stellten weder die EVG-Kolleg:innen noch das Publikum zufrieden. Man müsse den Begriff des Lernens neu definieren, mehr modulare und digitale Weiterbildungsformen entwickeln, es müsse mehr Wertschätzung und Respekt gelebt werden. Alles richtig, aber: „Bitte und Danke reichen nicht aus, wenn die Kolleg:innen ihre Körper und ihre Familien kaputtmachen. Das hat nichts mehr mit Wertschätzung zu tun“, so Florian Witte, Betriebsrat bei DB Cargo AG. Auch Florian sprach sich für die Wiederbelebung des Themas Ausbildungsplatzumlage aus. „Entweder ausbilden oder zahlen - zumindest in Engpass-berufen.“ Und „wir müssen in der bevorstehenden Tarifrunde ordentlich etwas herausholen.“

Lukas Mayer, Regionaler Jugendkoordinator, erinnerte daran, dass sich in diesem Jahr 115.000 junge Menschen bei der Deutschen Bahn beworben haben, „für 5.000 Ausbildungsplätze. Das Potenzial ist da und was hätten wir mit einer Vermittlungsoffensive für die ganze Branche erreichen können.“ 

Ergo: es gibt Stellschrauben, an denen gedreht werden kann, um mehr Menschen in die Verkehrsbranche zu holen und sie dort auch zu binden. Man muss es tun. Oder wie ein Kollege aus dem Publikum es auf den Punkt brachte: „Die Rederei muss langsam mal aufhören, wir müssen etwas machen.“

Am Nachmittag ging die Mitbestimmungskonferenz in die Workshop-Phase. Die über 700 Teilnehmenden hatten die Wahl zwischen insgesamt 13 Fachforen. Ausschreibungen, Gefährdungsbeurteilung, mobile Arbeit, Integration von Menschen mit Behinderungen, Eigenfertigungstiefe - die Inhalte der Fachforen zeigen die große thematische Spannbreite, mit denen sich die betrieblichen Interessenvertreter:innen der EVG tagtäglich befassen.

Zuvor haben die Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit genutzt, im Format einer „Fishbowl“ noch einmal Themen aus der betrieblichen Praxis zu platzieren. Neben den bereits am Morgen diskutierten Fragen der Aus- und Weiterbildung und der Fachkräftegewinnung kamen hier auch weitere Themen zur Sprache. So wurde angesprochen, dass bei der Digitalisierung die älteren Kolleg:innen nicht vergessen werden dürften. „Das werden auf einen Schlag zwölf neue Apps eingeführt, da ist dann mancher überfordert“, so ein Kollege.

Florian Gersten aus der KJAV der DB AG nahm den Ball auf und plädierte dafür, die Digitalisierung „nicht nur einzusetzen, um immer mehr Geschwindigkeit reinzubringen, sondern um Arbeit zu erleichtern.“ Jüngere und lebenserfahrene Kolleg:innen sollten hierbei mehr zusammenwirken. „Wir können euch was bei der Digitalisierung etwas beibringen, dafür habt ihr das Fachwissen, von dem wir profitieren. Wenn wir da zusammen-arbeiten können, dann wäre das wieder echte Eisenbahnerfamilie.“

Eine Kollegin von DB Regio brachte das Thema Sicherheit ins Spiel. „Wer möchte schon angespuckt und beleidigt und angespuckt werden im Dienst?“, so ihre Frage. „Wir tragen auf den Bahnhöfen teilwiese keine Uniform mehr, weil wir uns selber schützen müssen.“ Angesprochen wurde eine engere Einbindung der DB Zeitarbeit in den DB-Konzern - und das wichtige Thema Wohnen. „Zu mir kommen Leute, die wegziehen müssen, weil sie aus ihrer Wohnung geklagt werden oder sich das Wohnen nicht mehr leisten können“, so ein Kollege aus der Bodensee-Region. „Und der Arbeitgeber unterstützt sie überhaupt nicht.“

Ein Faden, den die Stellvertretende EVG-Vorsitzende Cosima Ingenschay aufnahm: „Die EVG und ihre Vorgänger-Organisationen haben schon gegen den Verkauf der Eisenbahnerwohnungen gekämpft. Heute entdecken auch die Arbeitgeber das Thema bezahlbarer Wohnraum wieder.“ Mit dem Wo-Mo-Fonds und dem Mietkostenzuschuss aus dem NaWuTV sei die EVG aber hier auf dem richtigen Weg.

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