Mehr Geschichte wagen - Plädoyer für einen mutigeren Umgang der Gewerkschaften mit ihrer (Zeit-) Geschichte

Aus der Geschichte lernen! Mehr Geschichte wagen, d. h. für Gewerkschaften, sich zunächst zu fragen, warum der eigene Umgang mit Geschichte seit einiger Zeit in eine Krise geraten ist. Was kann“ Lernen aus der Geschichte“ für Gewerkschafter am Beginn des 21. Jahrhunderts bedeuten?

Der Blick auf die gewerkschaftliche Geschichtspraxis seit 1945 verdeutlicht: Seit den 1980ziger Jahren leidet die gewerkschaftliche Geschichtskultur daran, dass sie zu sehr auf die frühe Arbeiterbewegung (Gewerkschaft, Jubiläen) und die Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus für die deutsche Gewerkschaftsbewegung bezogen ist.

Dadurch, so die zentrale These, verliert Geschichte innerhalb der Gewerkschaften den Bezug zu aktuellen Konfliktlagen. Aus einem wichtigen Instrument zur Analyse der Gegenwart wird ein rückwärtsgewandtes Erinnern an eine gewerkschaftliche Frühzeit, die mit der Lebenswirklichkeit von Arbeitnehmergruppen immer weniger verbunden erscheint. Notwendig ist eine Hinwendung zur Vorgeschichte der Gegenwart, vor allem zur Zeitgeschichte seit den 1970er Jahren die dann einigermaßen nachvollzogen werden kann.

Aus der Zeitgeschichte lernen heißt kämpfen lernen!

Die Zeitgeschichte bietet heute vielfältige Ansätze um Handlungskonstellationen differenziert zu analysieren und die Rolle der Gewerkschaften auf zentralen Konfliktfeldern neu zu beleuchten. Es stehen zahlreiche Studien bereit, die es Gewerkschaften ermöglichen, den eigenen Beitrag zum dynamischen Wandlungsprozess in Gesellschaft und Arbeitswelt historisch neu zu begreifen. Aus der Geschichte lernen heißt deshalb heute vor allem, die Vorgeschichte der Gegenwart als Erfahrungswerte so für die Gewerkschaftspolitik der Zukunft neu zu entdecken.

In den letzten Jahrzehnten ist ein wachsendes öffentliches Interesse an Geschichte zu beobachten.

Die Zahl von historischen Museen Ausstellungen und Programmbeiträgen in Fernsehen und Rundfunk nicht zuletzt auch in Spielfilmen hat ungeheuer zugenommen. Allerdings spielen Gewerkschaften und die mit ihnen verbundenen Themen meist nur eine Nebenrolle. Streiks und Tarifkonflikte, die Lebenswirklichkeit der Arbeiter und Arbeiterinnen oder Proteste von Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie kommen selten zur Sprache.

Auch das Angebot in den neuen Medien ist noch eher bescheiden. Selbst wenn es um die Zukunft der Arbeit geht, immerhin in den letzten Jahren eine nicht ganz selten öffentlich diskutierte Frage, erscheinen Gewerkschaften und ihre Mitglieder kaum als Akteure, von denen zentrale Impulse zur Gestaltung der Arbeitswelt von morgen ausgehen. Viele Beobachter sind sich einig, dass sie nicht nur in Deutschland, sondern in zahlreichen westlich industriellen oder postindustriell geprägten Gesellschaften einen großen bisweilen irritierenden Geschichtsboom erleben.

Allerdings wird kaum jemand, der innerhalb der Gewerkschaften oder bei den gewerkschaftsnahen Stiftungen mit der historischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit beschäftigt ist bestreiten, dass die Gewerkschaften an diesem Boom so gut wie keinen Anteil haben.

In den Gewerkschaften wird im Kontrast zum medialen Geschichtsboom einen Bedeutungsverlust von Geschichte und der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte festgestellt. So wie die Geschichte der Arbeit und der Arbeiterbewegung in der Öffentlichkeit wenig Raum einnimmt, so hat sie auch in den Gewerkschaften an Bedeutung verloren.

Stellte das „Lernen aus der Geschichte“ vor 30 Jahren noch einen wichtigen Bestandteil gewerkschaftlichen Selbstbewusstseins dar und bildeten Gewerkschafter*innen durch die Auseinandersetzung mit historischen kämpfen und der Geschichte der Arbeiterbewegung noch Identität aus, so steht die Beschäftigung mit der Geschichte seit geraumer Zeit unter wachsendem Legitimitätsdruck.

Es gilt, vereinfachende Deutungen zu vermeiden und zugleich herauszustellen, welche Erfahrungen von gewerkschaftlichen Akteuren zukunftsweisendes und identitätsstiftende Potenzial haben, ohne in einfache Erfolgs-oder Niedergangs-Stimmungen zu verfallen. Es gilt nicht zuletzt die Vielfalt innergewerkschaftlicher Identitäten zwischen Arbeitern und Angestellten, Ostdeutschen und Westdeutschen, Jungen und Alten, Männern und Frauen, einheimischen und zugewanderten, Funktionärin und einfachen Mitgliedern angemessen zu reflektieren. Für die letzten Jahrzehnte schlummert hier ein riesiges Potenzial in der eigenen (Zeit-) Geschichte.

Deshalb gilt insgesamt: die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit kann für die Gewerkschaften nur dann produktiv werden, wenn sie viel stärker - als aktuell betriebenen - als eine Beschäftigung mit dem gewerkschaftlichen Handeln der Epoche etwa seit 1970 verstanden wird. Lernen aus der Geschichte, das bedeutet für die Gewerkschaftsbewegung heute, die Vorgeschichte der Gegenwart als Erfahrungswerte für die Gewerkschaftspolitik der Zukunft neu zu entdecken.

Gewerkschaftsgeschichte ist aktuell

Die aktuellen Themen unserer Zeit und unserer Gesellschaft betreffen die großen Fragen, wie wir zukünftig leben und arbeiten wollen. Es geht um Arbeitsprozesse, Arbeitszeiten und Qualifizierung, Verlagerung von Arbeit ins Ausland oder ins Internet, prekäre Beschäftigung und ganz wichtig, um eine offensive Werte-Politik, die gerade in digitalen Arbeitswelten vielfach missachtet wird. Hier haben die Gewerkschaften historische wie aktuelle Kompetenz. Mit dem Blick auf die Geschichte können tagesaktuelle Handlungen besser begründet, verstanden oder verständlich gemacht werden.

Zum Beispiel die schlechten Arbeitsbedingungen und der Tarifkonflikt bei Amazon sind immer wieder in den Schlagzeilen. Letztlich geht es bei Amazon wie auch im ganzen Bereich von Arbeit im digitalen Zeitalter um globale Entwicklungen, bei denen die Rechte der Arbeitnehmer abgebaut und die Macht der Gewerkschaft beschnitten werden soll. Geringer Lohn, Leistungsdruck, fehlende Wertschätzung, Würde und Solidarität sind historisch gesehen keine neuen Phänomene, sie erscheinen aber nun globalisiert im neuen Gewand. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass soziale Errungenschaften nie freiwillig von den Arbeitgebern gewährt wurden, sondern das Ergebnis von Arbeitskämpfen waren und sind.

In der internen Vermittlung innerhalb der Gewerkschaften ermöglicht die Beschäftigung mit Geschichte Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung von den Gewerkschaften als Grundpfeiler der Demokratie.

Die Gewerkschaftsgeschichte kann darstellen, mit welchen Erfolgen Gewerkschaften Entwicklungen zu Gunsten der Arbeitnehmer beeinflusst haben. Das gleiche Potenzial trifft auch auf zukünftige Herausforderungen zu.

Generell gilt: Gewerkschaftsgeschichte ist die Geschichte der Gewerkschaftsmitglieder. Gewerkschaftsgeschichte muss als Scharnier zur Zukunft betrachtet werden.

In einer Studie des Internationalen Währungsfonds aus dem Jahr 2015 geht hervor das schwache Gewerkschaften ein wichtiger Grund dafür sein das es auf der Welt immer mehr soziale Ungerechtigkeiten gäbe.

Fazit: die große Herausforderung für die Gewerkschaften liegt darin, sich ihrem Bedeutungsverlust zu stellen, umso wieder an Bedeutung zu gewinnen. Bislang sind solche Fragen öffentlich tabuisiert, denn Gewerkschaften unterliegen in ihrer Selbstwahrnehmung dem Paradigma des permanenten Erfolgs. Das ist langweilig und unrealistisch. Grundsätzlich gilt, eine Spur in die Zukunft zu legen. Dabei sollte mehr auf den Faktor Geschichte gesetzt werden. Es geht nicht darum, von vergangenen siegreichen Kämpfen und heroischen Gewerkschaftsführern zu berichten oder energiepolitische Rückzugsgefechte zu führen, sondern die Beschäftigung mit historischen Themen bietet die Chance, Handlungsoptionen für heute und morgen aufzuzeigen.

Friedrich Rewinkel

EVG Geschichte

geschichte@evg-online.org

Auszug aus einem Forschungsprojekt der Stiftungen HBS/FES „Mehr Geschichte wagen“, Juli 2016